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Nebel über München

ISBN 978-3-7368-9818-9

Es ist Allerheiligen, der Tag, an dem man auf den Friedhof geht. Also geht auch Kommissar Wengler auf den Friedhof, um das Grab seiner Mutter zu besuchen, das allerdings schon lange nicht mehr ist. Es ist die Zeit, in der sich München verdunkelt und die Sonne bis zum nächsten Jahr nicht mehr zu sehen sein wird. Am Stauwehr bei der Praterinsel wird eine Leiche angespült. Der Tote ist einer von drei Freunden, die sich bereits seit ihrer Jugend kennen. Alle wohnen in derselben Nachbarschaft in Grünwald, einer eher ruhigen und gediegenen Gegend vor den Toren Münchens. Dort, wo die Burg hoch über der Isar thront und Morde nicht an der Tagesordnung sind. Dies ist jedoch nicht die einzige Gemeinsamkeit, die die Männer verbindet. Sie haben einen exklusiven Club gegründet, in den nur ausgesuchte Personen Einlass finden. Den 'Zirkel'. Es wird von Geschäften die Rede sein, die man dort tätigt und nicht an die große Glocke hängen will. Von Beziehungen, die man knüpft, um davon zu profitieren. Vom Rotlichtmilieu, in dem man verkehrt, als wäre man dort zu Hause. Auch Honoratioren der sogenannten guten Gesellschaft scheinen involviert zu sein, aber Genaues weiß man nicht. Doch Kommissar Wengler findet mal wieder die fehlenden Stücke, um das Puzzle zusammenzusetzen und den Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Nebel über München

Eine Kommissar Wengler Geschichte 

 

von

Olaf Maly

 

2015©Olaf Maly

 

 

Kapitel 1 (Auszug)

 

Es war kalt an diesem Novembermorgen. Und es war wieder einmal Montag. Allerheiligen war endlich vorüber und Allerseelen, am heutigen Tag, war kein richtiger Feiertag. Jedenfalls keiner, den man als Beamter der Münchener Polizei freihatte. Das Leben konnte also weitergehen. Am ersten dieser zwei feierlichen Tage gedachte man der Heiligen, wie es halt Tradition war im katholischen Bayern. Aller Heiligen, nicht nur derer, die man auf Erden irgendwann heiliggesprochen hatte. Nein, man gedachte auch jenen, von denen man noch nicht einmal wusste, dass sie heilig waren, da dies ganz ohne Zutun der Menschen entschieden wurde. Von ganz oben verordnet. Ohne dass jemand hier unten Einfluss nehmen konnte. Wie viele es davon gab, wusste keiner, das war aber auch Nebensache. Man verallgemeinerte und betete alle Heiligen gleichzeitig an. Das machte es einfach und effektiv. Wollte man doch keinen vergessen. Die wahrscheinlich unzählige Menge derer, die es geschafft hatten, konnte man nur erahnen, aber nicht wissen. Und mit dieser Methode, einfach alle gleichzeitig zu feiern, konnte man niemanden vergessen.

Was die bayerischen Heiligen betraf, hatten diese sicher eine Sonderstellung. Da war sich Kommissar Wengler absolut sicher. Seine Mutter hatte immer davon gesprochen, dass sie, wenn sie einmal in den Himmel kommen sollte, nur in den bayerischen einziehen würde. Dafür betete sie, wann immer sie eben betete. Und in ihren letzten Jahren betete sie viel.

'Und dann wart ich da auf dich, Herbert', pflegte sie zu sagen. 'Ein gutes Wort werd ich für dich einlegen, wenn ich ihn seh. Und dann machen wir uns eine gemütliche Ewigkeit. Da wird der Herrgott schauen! Da sitzen mir auf die Wolken und singen Halleluja. Den ganzen Tag.'

Das war zwar nicht gerade die Vorstellung vom Paradies, die Herbert Wengler hatte. Für sich selbst dachte er dann stets: 'Des werden wir schon sehen, wie sich des ergibt. Ich hoffe, da gibt's immer nur Bier und Weißwurst.' Obwohl der Pfarrer immer meinte, die Nahrung sei dort eher geistig. Was immer das zu bedeuten hatte. Zu seiner Mutter sagte Wengler jedoch: 'Mama, genauso machen wir des. Red mit ihm, wenn'st da oben bist.'

Dann kam Allerseelen, der zweite Tag dieses Gedenkens an die Verstorbenen, der in diesem Jahr ein Montag war, da er Allerheiligen folgte, was eben an einem Sonntag stattfand. Man gedachte der Seelen der Toten, die aus dem Fegefeuer aufgestiegen waren. Die von der Hölle Erlösten machten Rast an diesem Tag, wo immer sie hin unterwegs waren. Die Rast fand immer an ihrem jeweiligen Grab statt. Dem bayerischen Brauchtum folgend, brachte man ihnen deswegen etwas zum Essen an ihre Gräber. Meist einen Hefezopf oder Opferbrot, wie man es nannte. Das war früher. In der heutigen Zeit besuchte man die Gräber und beließ es dabei. Den Hefezopf aß man dann lieber selbst.

Kommissar Wengler nahm diesen Sonntag immer zur Gelegenheit, das ehemalige Grab seiner Mutter zu besuchen. Ehemalig deswegen, weil er eigentlich nur die Stelle besuchte, wo das Grab einmal gewesen war. Seine Mutter war vor vielen Jahren gestorben und hatte auf dem Südfriedhof für ein paar Jahre einen Platz gehabt. Dann hatte sich der Kommissar gedacht, dass ihre Seele sowieso schon lange im Himmel sei und man Platz machen solle für die nächste Generation Verstorbener. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass seine Mutter, die niemandem jemals ein Leid zugefügt hatte, überhaupt auch nur einen Tag in der Hölle war. Nicht eine Minute. Nein, das war ganz unmöglich. Sie brauchte also kein Grab, bei dem sie Rast machen konnte auf dem Weg in den Himmel. Zur Sicherheit beließ er das Grab dennoch für ein paar Jahre. Man konnte ja nie wissen. Und da wollte er kein Risiko eingehen, wenn er sie denn treffen sollte. Dort oben, im Himmel.

'Eines aber ist immer sicher', dachte er eines Tages für sich selbst: 'Die Toten sterben nicht aus.' Also gab er das Grab auf und vermachte es dem nächsten, der es brauchen mochte. Wiederverwertung nannte man das.

Trotzdem jedoch, ging er jedes Jahr an die Stelle, an der das Grab einst gewesen war. Dort ganz in der Nähe gab es eine Bank, grüne Latten, mit schmiedeeisernen Seitenteilen, die diese Latten in geschwungener Form zur Bank machten. Sie war alt, diese Bank, wahrscheinlich viel älter schon als er selbst. Und das Grün war jeden Zentimeter ein bisschen anders grün. Je nachdem, welche Schichten der Farbe gerade sichtbar waren. Wenn etwas die Zeit überdauerte, waren es Gräber und Friedhöfe, dachte Wengler sich stets, wenn er diese Bank sah. Er hatte auch immer eine dicke Zeitung dabei, die er auf die Bank legte, bevor er sich darauf setzte. Schließlich war es Anfang November und, wie immer um diese Zeit, kalt und nass. Auch wenn es seiner Hose keinen Schaden zugefügt hätte, sich einfach darauf zu setzen, es war einfach wärmer. Und hielt seine Hose trocken. Dann saß er dort, sog die frische, kalte Luft ein, sah den Eichhörnchen nach, die sich gegenseitig jagten, und lauschte den Stimmen der wenigen Vögel, die es um diese Zeit noch gab. Meist nur Raben und Krähen, die man den ganzen Sommer über nicht zu Gesicht bekam. Nur im Herbst und Winter wurden die munter. Und dann dachte er an seine Mutter. Sie war eine kleine, stämmige Frau gewesen. Bescheiden und still. Wann immer etwas Geld übrig war, gab sie es für den 'Bub' aus, wie sie ihn nannte. Er konnte sich nur an wenige Momente erinnern, in denen sie ihn Herbert genannt hatte. Der Name war der seines Vaters, der noch im letzten Kriegsjahr gestorben war. Auf dem Feld der Ehre, wie man so sagte. Ganz böse war seine Mutter immer deswegen und hat das nie verstanden – oder verstehen wollen. Das mit der Ehre und dem Heldentod. 'Tot ist tot, Bub, da gibt’s nichts zum Diskutieren. Auch nicht zum Verschönern. Da kann'st mir daheim bleiben, mit deiner Ehre. Lieber hätt ich den Herbert, deinen Vater, bei mir, als auf diesem komischen Feld.' Dann wurde so gut wie nicht mehr darüber geredet. Außer, wenn der Bruder seiner Mutter zu Besuch war, der immer wieder davon anfing. Deswegen, glaubte Herbert Wengler, haben die sich nicht so oft gesehen. Der Bruder, für Wengler Onkel Julius, hatte eine Schusterei. Unten, in der Au, einem Viertel Münchens, das bis heute seinen spröden, urbayerischen Charakter behalten hat. Am auffälligsten für den jungen Herbert Wengler war immer, dass der Onkel stets die schmutzigsten Schuhe anhatte, die man sich vorstellen konnte. Auch er selbst war nie ein Verfechter des Schuhputzens, aber sein Onkel war erstens Schuster und zweitens schon viel gereifter. Hätte also den Sinn sauberer Schuhe wohl mehr verstehen müssen als er selbst. Auf seine Frage, warum das so sei, antwortete sein Onkel, dass er keine Zeit habe, seine eigenen Schuhe zu pflegen. „An denen verdien' ich nicht einen Groschen, Bub. Kost' mich nur was.“

Damit war diese Diskussion erledigt und der junge Herbert wusste, dass er wieder etwas fürs Leben gelernt hatte. Nämlich, dass man mit seiner wertvollen Zeit haushalten und immer entscheiden musste, was man wann machte. Und die wichtigen Dinge zuerst erledigte. Wie 'auf ein Bier gehen' und Ähnliches, was Onkel Julius am liebsten machte. Auch Karl Valentin, ein Münchener Original, war in der Au geboren worden. Dieser Stadtteil musste also etwas an sich haben, was andere Viertel nicht hatten.

 

 

 

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