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Mittersendling

Münchener Lausbubengeschichten

ISBN: 978-3944596112

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Der Krieg ist endlich vorbei, das Leben kann wieder losgehen. Vier Freunde erkunden Mittersendling, einen alten Stadtteil von München. Sie besetzen leere Villen und suchen dort nach verlorenen Schätzen. Sie schaffen es, ohne zu bezahlen ins Freibad zu kommen, und schleichen sich heimlich ins Kino. Tagsüber spielen sie Fußball und träumen von großen Karrieren. Obwohl sie nichts mit Mädchen am Hut haben, wollen sie dennoch ausprobieren, wie das so ist mit dem ersten Kuss. Angeblich schmeckt er wie spanischer Wein, wie der Franz aus verlässlicher Quelle weiß.

Mittersendling

Münchener Lausbubengeschichten

 

von

Olaf Maly

 

2020©Olaf Maly

 

 

Kapitel 2 (Auszug)

 

In unserer Siedlung gab es eine Mauer. Sie verlief um die ganze Siedlung herum und war zwar nicht hoch, aber eben doch eine Mauer. Sie trennte uns von der Nachbarschaft der kleinen Häuser. Für uns, die wir noch jung und kurz waren, war sie hoch. Zu hoch. Man konnte nicht einmal drüber sehen, wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte. Der Kerber Franz, mein bester Freund, war mindestens einen Kopf größer als ich und schaffte es auch nicht. Er war schon so groß, weil er in der Schule eine Ehrenrunde hatte drehen müssen, er also eigentlich bereits in der nächsten Klasse hätte sein sollen, eine höher als ich. Wenn man ihn darauf ansprach, meinte er, dass ihm die Lehrerin, die Frau Zwirbel, viel besser gefallen habe als der Lehrer Zwick, den er nicht hat ausstehen können. Also ist er noch einmal in dieselbe Klasse gegangen in der Hoffnung, dass der Herr Zwick nicht mehr da sei, wenn er dann doch irgendwann versetzt werden musste.
»Ich hoff, der geht in Pension, bis ich in die nächste Klass komm, sonst sieht’s schlecht aus, Hansi. Viel mehr als ein- oder zweimal kann ich ned noch amal zur Frau Zwirbel.«
Deswegen war er also einen Kopf größer. Und deswegen stellte er sich hin, mit dem Rücken zur weiß verputzten Mauer, griff mit den Fingern seiner Hände ineinander und bildete so eine Trittfläche, auf die ich steigen konnte, um einen Blick über die Mauer werfen zu können. Er hielt seine Hände sehr tief, ich stieg hinein und er drückte mich nach oben.
»Mei, bist du a Brocken«, sagte er, als er sich anstrengte, aufrecht zum Stehen zu kommen. »Hilf halt a bisserl! Lang doch amal an die Mauer und zieh dich hoch, du Depp!«
Ich tat, was ich konnte, wenn auch ohne großen Erfolg.
»Was is’n da, Hansi?«, fragte er, als ich mich endlich an den Ziegeln festklammerte, die auf dem oberen Rand der Mauer angebracht waren.
»Nix Bsonders, nur a paar Häuser. Und an Garten ham die um ihre Hütten. Sehen tut ma nix.«
»Des weiß ich auch, dass da Häuser stehn, du Simpel! Ich mein den Ball, kannst den sehn? Des kann ned sein, dass du nix siehst. Tu ned a so, als wenn da nix wär.«
»Wennsd es ned glaubst, dann schau doch selber!«
»Depp, wie soll ich denn des machen? Siehst wenigstens den Ball?«
Ich schaute angestrengt nach allen Richtungen und versuchte, den Ball zu orten, den der Friedel Schorsch gerade über die Mauer geschossen hatte. Eigentlich sollte er abgeben und ich, der ich das Tor bewachte, dann halten. Aber wie immer, wenn wir da auf dem Rasen zwischen den Häusern Fußball spielten, wollte er das anders machen. Ich war in perfekter Position zwischen den Pfosten, gerade vor dem Verteidiger, dem Toni, der den Ball nie und nimmer erwischt hätte. Aber nein, der Schorsch musste uns unbedingt beweisen, dass er auch schießen kann, wenn wir ihm das auch schon hundertmal gesagt hatten, dass er eine träge Flasche sei, die nicht einmal ein Scheunentor aus zwei Metern Entfernung träfe.
»Ich mach des schon!«, rief er und schoss – wie zu erwarten – zu hoch und über die verdammte Mauer. Damit war unser Ball weg. Der einzige Lederball, den wir hatten, war weg. Wir hatten noch einen Gummiball, aber der zählte nicht. Der war nur Notersatz, sozusagen.
»Und jetz, du Depp?! Was mach ma jetz?«, schrie ihn der Franz an, lief hinter ihm her und wollte ihm einen Tritt geben, der allerdings voll ins Leere ging, da der Schorsch unter solchen Umständen immer sehr schnell sein konnte.
Der Franz überschlug sich durch die Wucht seines Tritts, was die anderen dann besonders amüsierte, dem Franz aber ganz und gar nicht gefiel.
»Des wirst noch büßen, du Dorfdepp, du depperter!«, rief er dem Schorsch nach, der immer noch so schnell lief, wie er konnte.
Also, hatten wir uns nach ein paar Minuten des Beratschlagens gedacht, dann schaun wir doch einmal, was mit dem Ball ist. Und so kam es, dass ich auf den Händen vom Franz stand und in den Nachbarsgarten blickte.
»Ich hab ihn! Der is da ganz am Haus und in die Blumen. Die werns sich freun, wenns des sehn, den Verhau. Die Blumen kannst vergessen. Die kannst ned amal mehr in a Vasen stelln.«
In genau diesem Moment kam der Sohn aus dem Haus, der Steiger Wilhelm, der mit uns in die Schule ging. Wir kannten ihn. Und er kannte uns. Aber wir mochten uns nicht. Er hielt uns für Unterschicht, Asoziale und so, da er in einem Haus wohnte und wir in einer Sozialwohnung; hinter der Mauer eben. Er war einer derjenigen, die uns Proletarier nannten. Außerdem trug er immer eine Fliege und ein kariertes Hemd. Im Winter sogar eine Jacke und einen Mantel, was wir nicht hatten. Und er besaß einige Hosen aus Stoff – nicht wie wir aus grobem, rauem Leder, das uns immer die Haut an den Beinen aufrieb. Und Schuhe trug er, jeden Tag Schuhe aus Leder. Unsere Schuhe durften wir nur am Sonntag anziehen und die drückten so, dass man sie sowieso gleich wieder auszog. Was wir hatten, waren Sandalen, die wir beim Fußballspielen als Torpfosten verwendeten, weil man mit Sicherheit damit rechnen konnte, dass sich die Sohle ablöste, wenn man damit den Ball trat. Und das war nicht gut, da man dann wieder zum Schuster musste und den ganzen Tag zu hören bekam, was das wieder gekostet hatte.

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