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Die Akte Matthias K.

ISBN 978-3-7438-5809-1

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Als ich in einem kleinen Bericht über Matthias K. las, der beschuldigt wurde, eine Bank überfallen und zwei Menschen  erschossen zu haben, ohne vorher jemals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen zu sein, machte ich es mir zur Aufgabe, den Hintergründe dieser Tat nachzugehen. Der kurze Artikel gab keine Einzelheiten preis, aber es interessierte mich. Vielleicht gerade deshalb. Ich musste wissen, wie, und vor allem warum, es dazu gekommen war. Nach einigen Wochen Korrespondenz und Besuchen in der Haftanstalt war Matthias K. bereit, mir alles zu erzählen. Dies ist also die Geschichte eines Lebens, das in gewisser Weise nicht selbstbestimmt war, in dem man ganz einfach den Eindruck bekam, es musste so weit kommen, irgendwann. Die Weichen waren gestellt und es gab keinen Ausweg, auch wenn das die beteiligten Personen noch nicht wussten.

Die Akte Matthias K.

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2. überarbeitete Auflage

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von

Olaf Maly

 

2018©Olaf Maly

 

 

Kapitel 1 

 

An der Tankstelle

 

Matthias Knollenberger stand hinter der Ecke des kleinen Gebäudes, das die Tankstelle ausmachte. Es war Sonntag. Ehemals ausmachte, musste man sagen. Sie gab es nicht mehr. Das Gebäude stand noch, die Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Tür fest im Rahmen verschraubt. Die Zapfsäulen waren abgerissen, nur die Drähte der Elektrik sah man noch wirr am Boden liegen. Als hätte man Adern aus einem Körper gerissen, sie irgendwo abgetrennt und einfach liegen gelassen. Und ihm damit das Leben genommen. Das Dach über den Zapfsäulen blätterte langsam ab. Wenn es windig war, schlug es unentwegt auf die verrosteten Stahlträger, die es eigentlich halten sollte. Es war auch einmal eine Reparaturwerkstatt für Autos und Motorräder mit angeschlossen, wie ein verwittertes Schild über dem Rolltor anzeigte, das kaum noch zu lesen war. Aber das war lange her. Nur noch Graffiti war zu sehen, verwaschen und undeutlich. Buchstaben, Symbole, Geschmiere. Das übliche.

Matthias wurde am Tag davor zweiundzwanzig. Zwar hatte das keine Bedeutung, weder für ihn noch für die Geschichte, aber es war eben so und ist schon deswegen erwähnenswert. Er feierte den Tag im Kreuzeck. Seiner Stammkneipe. Warum die Kneipe Kreuzeck hieß, erklärte ihm der Wirt, Alfons Kloser, einmal eingehend:

„Schau, Matthias, wir sind an einer Kreuzung und des Lokal hier ist an einem Eck von der Kreuzung. Also heißt des Kreuzeck. Wenn wir nicht an einem Eck wären, sondern weiter drin in der Straße, würde des natürlich auch nicht so heißen, aber weil des so is wie des is, heißt mein Etablissement eben Kreuzeck.“

Etablissement sagte er so, wie man es schrieb. Damit war die Erklärung abgeschlossen. Matthias nickte verständnisvoll und gab sich damit zufrieden. Eigentlich war es ihm sowieso egal, wie die Kneipe hieß, hauptsache, es gab etwas zu trinken.

Und das gab es an diesem Tag genug. Irgendwie hatte es sich herumgesprochen, dass heute sein Geburtstag war. Als er, es war ein Samstag, dort gegen zwei Uhr nachmittags auftauchte, war sein erster Gang der zum Wirt.

„Fonsi“, sagte er bedeutungsschwer und leise, damit es niemand hörte, als er sich auf einen der hohen Stühle schwang und sich selbst über den Tresen hievte, „bitte sag niemandem, dass ich heute meinen Geburtstag hab. Sonst muss ich noch einen ausgeben, und des will ich schon gar nicht, verstehst?“

„Selbstredend, Matthias, keiner wird davon wissen, dass des heut dein Geburtstag is. Ich werd des niemandem nicht sagen.“

Das wiederum sagte der Wirt, vielsagend lächelnd, so laut, dass alle Anwesenden ihre Hälse reckten, sich gegenseitig ansahen und dann nacheinander zu Matthias gingen, um ihm handfest zu gratulieren. In diesem Moment bereute er es natürlich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Aber damit war es natürlich gelaufen. Nicht, dass sie ihn besonders mochten, nein. Aber einen Anlass für Freibier hatte man noch nie ausgeschlagen. Da sah man nicht so genau darauf, ob man einen mochte oder nicht. Kennen war da schon ein guter Grund. Ein Bier nach dem anderen musste er spendieren, auch wenn er nicht wollte. Der Tag streckte sich bis in den frühen Abend. Nur die Tatsache, dass Bayern München gegen Schalke 04 spielte, machte seinem Geburtstagsfest ziemlich schnell ein Ende. So wichtig war nun sein Geburtstag auch wieder nicht, als dass man das Spiel hätte vergessen können. Wenn man auch vorher schon wusste, wer gewinnen würde, starrte man dennoch auf den alten Bildschirm, der auf einer Konsole oben in der Ecke montiert war.

 

Matthias stand also am Sonntagnachmittag an diesem verlassenen Haus, das einmal die Kasse und das Büro des Unternehmens war. Damals waren diese Einrichtungen einer Tankstelle noch, was sie sein sollten, nicht kleinere Supermärkte, in denen man sich auch noch am Samstagabend eine Pizza holen konnte. Es gab nur einen Tisch mit der Kasse und einem Regal mit verschiedenen Ölen. Daneben noch Filter und Mittel, den Motor zu reinigen. Von innen. Sollte Wunder wirken und ihn wie neu aufleben lassen. Und Zündkerzen waren fein säuberlich aufgereiht. Keiner hatte sich je die Mühe gemacht, alles leer zu räumen. Verstaubt lagen viele Sachen noch verstreut herum.

Es wurde langsam kalt. Herbst war es. Die Sonne schien und machte die Welt bunt. Sehr schwach zwar, aber dennoch. Blauer Himmel gegen die gelben Blätter der Ulmen, die sich um das Areal selbst angesiedelt hatten. Es war keine feste Zeit mit den Leuten vereinbart, die er dort treffen wollte, also wartete er. Nur nachmittags, sagten sie. Er sollte dort warten.

Nun, da es langsam dunkel wurde, verblassten auch die Farben und wurden selbst dunkel. Die Äste schwarz, die Blätter grau. Wind frischte auf und trieb den Abfall in kleinen Wirbeln in die Ecke. Es war immer derselbe Abfall, der sich mal dorthin, mal dahin verteilte und doch immer wieder den Weg zurück fand.

Ab und zu kam ein Auto vorbei, das den Wind auffrischen ließ und den Dreck der Straße gleichmäßig zur Tankstelle wehte. Matthias hatte einmal gelesen, dass der Sand von der Sahara bis nach Amerika geblasen würde. So ein Schmarren, dachte er sich damals. Das können die mir erzählen. Sahara-Sand in Amerika. Daran musste er denken, als er den feinen Staub ausspuckte, der seinen Mund gefunden hatte.

Matthias trat von einem Fuß auf den anderen, sah in eine Richtung, dann wieder in eine andere, zündete sich wieder eine Zigarette an und fluchte leise vor sich hin. Er wollte nach Hause, und nicht die halbe Nacht dort an der Tankstelle verbringen. Er wollte, dass es endlich vorüber war. Dann kam ein Fahrzeug, das, als es sich der Tankstelle näherte, langsamer wurde und vor ihm an die Seite fuhr.

„Das muss er sein“, dachte sich Matthias und trat näher an die Straße. Das Fahrzeug, ein kleines Auto das er nicht kannte, hielt mit quietschenden Bremsen vor ihm an. Die Scheinwerfer leuchteten, auch wenn diese schon sehr blind waren und nur fahles gelbes Licht abgaben. Das Licht wurde mit der Drehzahl des Motors heller und dunkler. Obwohl er neben dem Wagen stand, konnte Matthias nicht sehen, wer in dem Fahrzeug saß. Auch nicht, ob es einer oder mehrere waren. Das Fenster wurde heruntergelassen. Musik dröhnte ihm in den Ohren. Lauter Rap mit tiefem Bass. Es vibrierte in seinen Eingeweiden mit jedem Schlag. Jemand streckte eine Hand aus. Die Finger machten eine Bewegung, die bedeutete, er solle näher herankommen. Langsam ging Matthias ans Fenster und versuchte hineinzusehen. Eine große, viereckige Taschenlampe, die genau in sein Gesicht schien, verhinderte den Blickkontakt. Reflexartig hob er seinen Arm und versuchte seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen.

„Das Geld“, kam es aus dem Auto.

„Wirf es durch das hintere Fenster.“

Matthias sah nach rechts und bemerkte schemenhaft, dass das hintere Fenster offen war. Er nahm das kleine Paket, das er in der Seitentasche seiner Hose hatte und warf es ins Auto. Jemand muss dort gesessen haben, wenn er es auch nicht sah, aber dieser „Jemand“ sagte kurz darauf etwas in einer für ihn unverständlichen Sprache. Auch die brüllende Musik verhinderte, dass er verstand, was gesagt wurde. Unmittelbar danach flog ein Paket durch das vordere Fenster, das ihn an seinem Oberschenkel traf und auf dem Boden landete. In diesem Moment gab das Auto Gas und fuhr davon. Matthias stand allein neben der ehemaligen Zapfsäule, schloss langsam die Augen, um sich wieder an die Dunkelheit zu gewöhnen, hob das kleine Paket auf und betrachtete es. Es war eingepackt in einer dunkelblauen Plastikfolie, mit etlichen Gummiringen gesichert. Er nahm einen Gummi nach dem anderen ab und zog die Folie an einer Ecke herunter. Dann nahm er seinen kleinen Finger, befeuchtete ihn mit der Zunge, strich über die Masse und probierte.

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