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Stumme Zeiten

ISBN 978-3-7438-4012-6

Gerade als Kommissar Wengler ein paar Überstunden abfeiern will, wird er von seinem Assistenten Armin Staller aus dem verdienten Vormittagsschlaf gerissen. Es gibt einen Toten an einem Rastplatz der Autobahn von München nach Garmisch. In der Nähe von Starnberg. Dies ist eigentlich gar nicht sein Revier. Doch da es den Kollegen dort an Morden mangelt, haben sie keinen Kommissar, der sich des Falles annehmen könnte. So muss wohl oder übel er sich um den Toten, dessen Auto ein Münchener Kennzeichen hat, kümmern.

Es ist ein Anwalt, der dort gehalten hat, um sich von einer Liebesdienerin verwöhnen zu lassen. Leider ging diese Verabredung für ihn nicht gut aus. Nach und nach stellt sich heraus, dass auch zwei weitere Anwälte auf dubiose Art in diese Geschichte verwickelt sind. Alle drei kannten sich. Doch gibt es auch einen direkten Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ableben auf dem Rastplatz? Dies muss Kommissar Wengler nach und nach in akribischer Kleinarbeit selbst herausfinden. Dabei scheint es nicht verwunderlich, dass die beteiligten Personen wenig darum bemüht sind, ihm bei der Wahrheitsfindung zu helfen.

 

 

 

 

Stumme Zeiten

Eine Kommissar Wengler Geschichte 

 

von

Olaf Maly

 

2017©Olaf Maly

 

 

Kapitel 1 

 

Kommissar Wengler war gerade dabei, sich eine Tasse Kaffee zu kochen. In Giesing. Zu Hause, bei sich, in seiner kleinen Küche unterm Dach, die an einer Seite eine Schräge hatte. Und dort auch das einzige Fenster, das zum bayerischen Himmel hinaus zeigte. Dieser war grau an diesem Morgen, jedenfalls auf der Seite, die man von hier aus sehen konnte. Nicht ganz grau. Mehr abwechselnd grau. Hell- und dunkelgrau, mit blau dazwischen, in variablen Abständen. Die Wolken zogen schnell wie ein D-Zug über den blauen Hintergrund, der sich auftat, wenn so eine Wolkenbank wieder einmal gen Osten gezogen war. Das Wetter kam immer aus dem Westen, aus der Biskaya, Frankreich. Vielleicht ein Grund, warum man in Bayern die Franzosen nicht so gerne mochte. Außer Lola Montez, natürlich, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Sie war zwar keine Französin, sondern Irin, die auch einmal in Indien gelebt hatte. Aber sie kam aus Paris, um unserem König Ludwig dem Ersten den Kopf zu verdrehen. Das reichte, um als Französin durchzugehen.

Tauben flogen am Dachfenster vorbei, und er hatte immer den Eindruck, als würden sie bei ihm hineinsehen. Er fühlte sich beobachtet. Im Sommer, wenn das Fenster offen war, sah man sie am Rahmen sitzen und neugierig ins Zimmer schauen. Sie streckten ihre Hälse so weit es ging in das Zimmer, als gäbe es dort irgendetwas, das für eine Münchener Taube von Wert sein konnte. Manche pickten sogar an die Scheibe, um auf sich aufmerksam zu machen. Dann stellten sie Sichtkontakt mit Herbert Wengler her, gurrten kurz zum Gruß und flogen ihrer Wege.

Auch kam so ab und an einmal ein kleiner Ast gegen die Scheibe geflogen, der sich von einem der wenigen Bäume gelöst hatte, die es noch in Giesing gab. Dann krachte es ein wenig, und man erschrak. Früher, ja, da gab es mehr Grünflächen. Sogar einen Spielplatz gab es mitten unter den Häusern, dort unten im Hinterhof, dem kleinen Park zwischen den Häusern. Dann ersetzte man diesen durch ein paar teure Eigentumswohnungen mit Tiefgarage, und das Grüne war gegangen. Abgelöst durch eine farbenfrohe, graue Fassade. Mit glattem, pflegeleichtem Sichtbeton, wie man das nannte. Und Naturrostflächen. Immerhin hatte man die Türen rot angestrichen. Oder blau, damit man auch wieder sein Zuhause finden konnte. Manchmal waren die Fensterrahmen grün.

Auf der anderen Seite des Raumes, an der keine Schräge war, gab es eine kleine Küchenzeile. Graues Resopal, das aussehen sollte wie Marmor, diesen gewünschten Effekt jedoch total verfehlt hatte. Es sah mehr aus wie Resopal eben. Dann war da ein rostfreies Waschbecken aus Edelstahl, ein Ofen und ein unter einer Arbeitsplatte eingebauter Kühlschrank.

Den Ofen konnte Herbert Wengler nicht bedienen, da man diesen erst programmieren musste, bevor er irgendetwas tat. Dazu gab es ein kleines Handbuch, in der die Schrift so groß war wie die Beschreibung der Nebenwirkungen auf einer Pillendose. Als hätte man den Inhalt einer Magazinseite auf einer etwas größeren Briefmarke unterbringen müssen. Das allein wäre nicht so tragisch gewesen. Lediglich das Deutsch, das offensichtlich von einem Chinesen übersetzt worden war, konnte er beim besten Willen nicht entziffern. Er war nie eine Koryphäe in Deutsch, aber das hätte bei seiner Deutschlehrerin Kreszenz Scheitelmeier, die ihn mehr oder weniger deswegen ignoriert hatte, mit Sicherheit eine glatte sechs eingefahren.

Der Kühlschrank war unter der Arbeitsfläche, die gerade einmal einen halben Meter lang war - und somit zwangsläufig relativ klein. Viel ging dort nicht hinein. Gerade einmal ein paar Bier und vielleicht 200 Gramm gemischter Aufschnitt von Sebastian Fettl, seinem Metzger in der Deisenhofener Straße, aber das reichte. Er aß sowieso meistens außerhalb. Weder der Ofen noch der Kühlschrank waren ein großes Problem für Herbert Wengler, da er weder Lust noch die Energie als wohl auch das Können aufbrachte, sich selbst etwas zum Essen zu kochen. Der Augustiner war ihm gerade recht. Und für ein paar Weißwürste und zwei Brezen, die er dort immer frisch bekam, zusammen mit einem kühlen Bier, brauchte es auch keine überteuerte Küche.

Einmal stand er in einem Geschäft für Haushaltsartikel und bestaunte einen programmierbaren Ofen, der mehr Computertechnologie in sich hatte, als der, mit dem man zum Mond geflogen war. Meinte jedenfalls der Verkäufer, ein junger Mann mit rechts rasiertem Schädel und links wallendem, vollem Haar. Sollte dieser einmal mit dem Gesetz in Konflikt kommen, müsste man ihn von beiden Seiten aus fotografieren, dachte er sich. Einmal als Vollhaar und einmal als Glatze.

Er hatte sich das also, sozusagen sekundär, einmal erklären lassen, wie so ein Ofen der Neuzeit funktionierte. Das heißt, eigentlich erklärte man es nicht ihm, sondern einem jungen Ehepaar, das mit halb offenem Mund neben einem dieser Monster stand und dem Verkäufer lauschte, der nicht schnell genug reden konnte. Man hätte auch einem Bericht der Tagung der Astrophysiker zuhören können. Vielleicht hätte man dann wenigstens verstanden, wovon dieser Professor in Sachen Elektroofen mit programmierbarer, eingebauter Mikrowelle und automatisch nachgezogenem Wärmespeicher in voller Euphorie berichtete. Er musste einfach danebenstehen und zuhören. Und dabei lächeln. Bis ihn der Verkäufer sah und fragte, ob er auch an so einem Wunder der Technik interessiert sei. Dann lachte er und sagte ihm: „so ein Schmarrn hab ich schon ewig nicht mehr g’hört.“

Der Verkäufer betrachtete ihn, als wäre er gerade von einem fremden Stern herunter gebeamt worden. Und dann ging Herbert Wengler kopfschüttelnd seiner Wege.

Und dieser Weg führte ihn eben an den Kaffeemaschinen vorbei. Nachdem er die Preise sah und immer weiter und weiter in die hintere Ecke ging, da er dachte, dort würden sie niedriger, stand er plötzlich vor diesem Glastrichter. Dieser war preismäßig zu verkraften. Unter 30 Euro. Das war wahrscheinlich günstiger als das extrafeine, mit Laser gelochte Sieb, von dem man an den italienischen Maschinen lesen konnte, die garantierten, das man ein noch nie da gewesenes Kaffeeerlebnis haben würde. Jedes mal aufs Neue. Immer wieder neu. Sollte man sich entschließen, ein solches mechanisches Wunder zu erstehen.

Er hatte sich also eine neue Kaffeepresse zugelegt, so eine französische. Man schüttete Kaffeepulver in ein zylindrisches Glas, goss heißes Wasser darüber und drückte langsam und bedächtig, das war das Wichtigste, ein Sieb durch das Wasser. Der Kaffeesatz sollte unten bleiben, der Kaffee selbst über dem Sieb. Er hatte sich das im Kaufhaus vorführen lassen und dachte, das wäre etwas für ihn. Die Demonstration war allerdings ohne Kaffee. Trocken. Die Verkäuferin war nicht davon zu überzeugen, dass es mit Kaffee besser aussehen würde.

Nicht dass er besonders gut auf die Franzosen zu sprechen war, aber da drückte er eben einmal ein Auge zu. Oder sogar zwei. Außerdem war die junge Frau in der Küchenabteilung ausgesprochen nett und hatte ihn mit ihrem Lächeln mehr als überzeugt.

Das mit den Franzosen hatte auch noch historische Hintergründe. Hintergründe aus seiner eigenen Geschichte, über die er nicht gerne redete. Sie hieß Monique und sprach kein Wort Deutsch. Dachte er jedenfalls, damals. Das war vor vielen Jahren in seiner Stammkneipe am Glockenbach, wo er sich manchmal mit seinen Freunden zum Schafkopfen traf. Er musste auf sie warten, und da kam dieses Mädchen in die Wirtschaft. Groß, schlank, lange braune Haare, roter Mund. Sie ging nicht, als sie schritt, nein, sie schwebte. Wie auf Wolken. Am Tresen vorbei, bis zu seinem Tisch. Dann fragte sie, ob sie sich setzen dürfe. In gebrochenem Deutsch, mit französischem Akzent. Sie war jung, zerbrechlich, sah blendend aus und schmiegte sich nach wenigen Minuten an ihn an. Nachdem er um einige Mark ärmer war und ihre Zunge immer loser wurde, stellte sich heraus, das sie eigentlich Monika hieß und aus einem Dorf kam, das Hinterhopfenbach hieß. Das kam allerdings erst ans Tageslicht, als seine Freunde bereits anwesend waren und ihn im gewissen Sinne beneideten. Wenn ihn seine Freunde besonders ärgern wollten, brauchten sie nur den Namen Monique erwähnen, und schon war der Tag für ihn gelaufen.

 

Er war an diesem Tag nicht ins Büro gefahren, das Wetter war zu schön, auch wenn sich die Wolken in atemberaubender Eile abwechselten. Es war ein lauer Tag, einer, den man in München zählen konnte, den man feiern musste. Nicht zu heiß und nicht zu kalt. Ein bisschen windig vielleicht, aber dennoch angenehm. Blauer Himmel, kleine Wolken. Er hatte schon Bescheid gegeben, dass er, wenn das Wetter nicht umschlagen sollte, einen Tag frei nehmen würde. Wenn es regnen sollte, meinte er, wär’s im Büro auch nicht am schlechtesten. Dann käme er schon noch. Andererseits würde er endlich einmal seine Überstunden abfeiern.

Am Abend zuvor waren er und seine Freunde, der Schäfer Franz aus Giesing und der Hintermeier Egon aus der Glockenbachstraße, noch im Augustiner gewesen. Man hatte dort zwei nette Frauen kennengelernt, die nicht aufhörten, begeistert davon zu erzählen, wie schön doch München sei und wie nett doch die Bayern wären. Trotz ihres zweifelhaften Rufes, den die Bayern ja doch hätten, wie sie immer wieder lachend betonen mussten. Und so gutaussehend wären die Bayern. Besonders die an diesem Tisch. Der Egon und der Franz fanden das unheimlich lustig und wollten gar nicht mehr heim, haben ein Bier nach dem anderen ausgegeben, sie zum Essen eingeladen. Bis die zwei Frauen dann auf einmal auf die Toilette mussten. Zusammen. Niemand wunderte sich, da Frauen grundsätzlich nur in größeren Gruppen auf die Toilette gingen, also ließ man sie ziehen. Dann kamen sie nicht mehr zurück.

Da der Kommissar von Anfang an sah, dass das nicht gut ausgehen würde, hatte er sich nicht an der spendablen Großzügigkeit der beiden beteiligt, mit der Ausrede, dass er nicht genug Geld bei sich hätte.

„Und jetz, ihr zwei Deppen? Habt’s des ganze Geld ausgeben und die zwei ham an schönen, freien Abend g’habt. Und jetz sind’s weg und lachen sich halb tot, dass die zwei Blöde g’funden ham, die’s eing’laden ham.“ 

„Aber schön war’s, oder net, Herbert?“

Dann lachten sie darüber und stießen noch einmal auf die Frauen an, die einen ja doch immer noch irgendwie im Bann hätten.

„Wie machen die des nur?“, fragte der Schäfer Franz in die Runde, erwartete jedoch keine Antwort. Man wusste es. Die Frage war mehr rhetorisch.

Dann schlief er aus, da er mehr getrunken hatte, als er wollte. Er machte das nicht oft, aber manchmal musste das sein. Irgendwie brauchte sein Körper ab und zu die Spülung, damit sein Gehirn wieder frei wurde und ordentlich arbeiten konnte, meinte er dann immer. Was allerdings das Innere seines Kopfes mit dem Bierkonsum zu tun hatte, war und blieb sein ureigenstes Geheimnis. Sollte ihn jemand darauf ansprechen, meinte er nur: „Davon verstehst du nix.“

 

Das Telefon klingelte.

„Halb zehn, mitten in der Nacht“, sagte er zu sich selbst und ging langsam zum weißen Schnurtelefon, das er sich schon vor vielen Jahren zugelegt hatte.

„Wie kannst nur mit so am oidn Zeug leben“, haben die Leute gemeint, die ihn besuchten.

„Heut braucht ma doch a Schnurloses. Weißt, so eins, des ma in alle Zimmer mitnehmen kann. Sogar aufs Klo kannst des mitnehmen und doch noch telefonieren.“

„Des letzte, was ich da brauch, ist a Telefon“, pflegte er darauf zu antworten und sah damit die Sache als erledigt an.

Nun also klingelte es. Penetrant.

„Was is?“, sagte er, als er es abhob.

Er war nie sehr höflich oder nett an seinem Telefon zu Hause. Die Leute, die seine Nummer kannten, waren seinen Ton gewohnt. Und die, die ihm etwas verkaufen wollten, wurden damit sofort in die richtige Richtung gewiesen. Eben aufzulegen.

Es war Armin Staller, sein Assistent. Er wusste, dass sein Chef an diesem Tag nicht ins Büro kommen wollte, aber eine Leiche kann nicht warten, meinte er.

„Herr Kommissar, wir haben einen Toten. In einem Auto an der Raststätte Höhenrain, auf der Autobahn nach Garmisch.“

„Aha. Und was wollen wir in Höhenrain? Do is doch Starnberg zuständig, oder?“

„Wie immer haben Sie recht, Herr Kommissar, aber erstens ist der Tote in einem Auto mit Münchener Kennzeichen unglücklicherweise verstorben und hat eine Münchener Adresse, und zweitens haben die in Starnberg niemanden, der das übernehmen kann. Einsparungen und so, haben die gemeint. Es gäbe zu wenig Tote dort, als dass sich ein Kommissar bezahlt machen würde.“

„Zu wenig Tote? Da leben doch nur Alte. Musst amal hingeh'n, nach dem Starnberg. Da siehst es dann, in ihre Marineuniformen, als würden's jetz groß in See stechen. Mit so einer Kappen auf, da von Norddeutschland. Damit's die Toupets da am hirnlosen Schädel ned wegblast, verstehst. Dabei is des nur der Starnberger See, den'st in a halben Stund durchschwimmen kannst.“

„Tote, die nicht eines natürlichen Todes sterben, mein ich, Herr Kommissar.“

„So, und wir ham alle Zeit der Welt und nix zum Tun?“

„Bei diesem Wetter ist das doch ein schöner Ausflug in die freie Natur.“

„Du kannst mich mit deiner Natur. Hast den Brunner schon ang'rufen? Ich geh davon aus, dass die auch keinen Brunner haben, da unten.“

Dr. Brunner war der zuständige Gerichtsmediziner. Der Kommissar mochte ihn. Auf seine Weise, allerdings.

„Schon erledigt, die sind wahrscheinlich schon auf dem Weg. Ich habe eine Stunde gewartet, da ich Sie nicht aus dem Bett holen wollte.“

„Des spricht für dich, Armin. Ich drück mir jetz an Kaffee durch, und dann komm ich runter. In a halben Stund bin ich fertig, dann kannst mich abholen.“

„Sie drücken sich einen Kaffee durch? Wie soll ich das verstehen?“

„Französisch, Armin, verstehst? Mit so einer französischen Presse. Hab ich mir letztens zug'legt. Aber macht nix, wenn'st des net kapierst. Bis gleich dann.“

Damit legte er auf und preßte sich noch einen Kaffee durch das französische Sieb.

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